Zwischenruf Gesamtverteidigung

In einem Food-for-thought-Paper zum „Rüstungsgipfel“ am 27.03.2024 im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz schreiben Christian Mölling und Torben Schütz, dass es eines „sicherheitspolitischen Gesellschaftsvertrages“ unter Einbeziehung der Bundesregierung und der Landesregierungen mit einer Laufzeit von einer Dekade bedürfe, um Deutschland auf das Handling möglicher zukünftiger Konflikte vorzubereiten. Diese “langen zehn Jahre” erscheinen als ein mehr als realistisch berechneter Zeitraum, wenn wir den derzeitigen Zustand der Gesamtverteidigung als Ausgangspunkt wählen. Vor einigen Wochen war ich mit dem Bundesminister der Verteidigung, Boris Pistorius, in Schweden, Norwegen und Finnland unterwegs; insbesondere Schweden und Finnland können konzeptionell als Mutterländer der Gesamtverteidigung betrachtet werden. Welche Gedanken scheinen geeignet, um – unter Berücksichtigung eines anderen Staatsaufbaus – auch in einer deutschen Neuaufstellung der Gesamtverteidigung Berücksichtigung zu finden? An dieser Stelle möchte ich drei aus meiner Sicht tragende Gedanken benennen.

Zwischenruf Gesamtverteidigung Nr. 1

Ambitionsniveau Gesamtverteidigung definieren. Ein Belastungstest einer Gesellschaft funktioniert nur mit einem klar definierten Ambitionsniveau und gesellschaftlich ausgehandelten Prioritäten. Zu welchem Zeitpunkt “klappt” eine Gesellschaft auf Verteidigungsmodus um? Wir sollten den Mut haben, zu definieren, wie lange die deutsche Gesellschaft im Spannungs- oder Kriegsfall und eingeschränkten Lieferketten mit möglichst wenig Einschränkungen funktionieren soll. In Schweden sind das drei Monate. Die Erreichung des entsprechenden Niveaus – und das ist der Vorteil – könnten wir gezielt intersektoral vorbereiten. Dazu ist die frühzeitige Einbeziehung der Wirtschaft erforderlich. Durch die verbindlichen Einbindungen entstehen relevante Akteure für Spannungs- und Verteidigungsfall mit besonderen Rechten und Pflichten; insbesondere werden der Gesellschaft planbare Fähigkeiten in Industrieproduktion, aber auch Services wie Transport, Ernährung und Gesundheit bereitgestellt. Die Komplexität der dargestellten Aspekte zeigt exemplarisch, dass das Zusammenwirken und die Synchronisation aller gesellschaftlichen und staatlichen Ebenen erforderlich sind, um das angestrebte Ziel der Verteidigungsfähigkeit zu erreichen.

Zwischenruf Gesamtverteidigung Nr. 2

Psychologische Verteidigung als Erfolgsfaktor. Die im Kalten Krieg bestehende Psychologische Verteidigungsbehörde wurde in Schweden wieder eingerichtet. Auf Grund der verschlechterten sicherheitspolitischen Lage, aber auch der technischen Entwicklung und veränderter Mediennutzung wird festgestellt, dass die Planungs-, Vorbereitungs-, und Beübungsfähigkeit schnellstmöglich wiederhergestellt werden sollen. Da nur der Aufbau psychologischer Resilienz im Frieden den gewünschten Effekt im Spannungs- und Verteidigungsfall garantiert, muss der Fähigkeit zur effektiven Verbreitung sachlicher, öffentlicher Information im Krisenfall Priorität beigemessen werden. Der Aufbau dieser Fähigkeit ist im Zeitalter von Fake News und immer schwächeren Möglichkeiten, die Bevölkerung mit Informationen gesamtheitlich zu erreichen, auch in Deutschland entscheidend. Sollte sich ein fremder Staat etwa durch eine Desinformationskampagne in unsere inneren Angelegenheiten einmischen, braucht es eine Institution mit operativen Befugnissen, die die Bevölkerung warnen und aufklären kann.

Zwischenruf Gesamtverteidigung Nr. 3



Anwendung der Vorsorge- und Sicherstellungsgesetzgebung flexibler machen. Deutschland hat ein altes, sehr umfangreiches und nicht “heruntergerüstetes” System der Vorsorge- und Sicherstellungsgesetzgebung. So ist beispielsweise normiert, dass strategisch wichtiges Personal im Spannungsfall nicht kündigen darf. Dieses System braucht nicht nur ein Update, sondern muss der veränderten sicherheitspolitischen Lage und nicht traditionellen Formen der Kriegführung (Grauzonen-Operationen) angepasst werden. Es sollte geprüft und festgelegt werden, wann in einem abgestuften System von Bereitschaftsstufen bereits unterhalb des Spannungsfalles bedarfsorientiert Einzelnormen der Sicherstellungsgesetzgebung aktiviert werden können. In diesem Zusammenhang ist auch die noch engere Verzahnung von Katastrophenschutz und Zivilschutz aus Schutz- wie Kostenaspekten interessant.

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