Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Anwesende,
wir gedenken heute in ganz Deutschland den weltweiten Opfern von Krieg und von Gewalt – wir denken an Kinder, wir denken an Frauen, wir denken an Männer. Wir denken an Menschen, die durch Verfolgung getötet wurden. Wir trauern um die Opfer aktueller Kriege und aktuellen Terrors. Wir sind in Gedanken bei Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräften, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren. Wir erinnern uns heute …
Wir erinnern uns. … Ich erinnere mich.
Ich erinnere mich, dass ich als junger Leutnant drei Kameraden beerdigen musste, die in Kundus bei den Karfreitagsgefechten gefallen waren. Ich erinnere mich an die Situation, in denen ich Völkermord an Frauen, Männern und Kindern in Mali beobachten musste und nichts tun konnte. Ich erinnere mich an meine Familiengeschichte, an den Zweiten Weltkrieg. Sie erinnern sich und denken vielleicht auch an Ihre Familiengeschichte. Oder an Angehörige, die Sie verloren haben. Wir erinnern uns!
Aber was bedeutet eigentlich “Erinnern”? Zum Erinnern braucht es Menschen, die sich erinnern. Sie und ich, wir holen uns Erfahrungen, Erlebnisse, Erzählungen nah an uns heran. Wir machen uns Geschehnisse und Momente wieder präsent … wir lassen uns berühren. Erinnern ist Vergegenwärtigung. Und so sprechen wir mit dem Vergangenen über das Heute. Und wir stellen mit der Vergangenheit Fragen an die Gegenwart. So verstanden ist Erinnerung kein starres Ritual. Erinnerung ist lebendig. Und Erinnerung ist unbequem, denn wir stellen uns mit der Vergangenheit nicht die gleichen Fragen an die Gegenwart. Ich gehe noch weiter: Erinnerung sollte unbequem sein. Denn nur wenn wir uns nicht zurückziehen in ein starres Erinnern, lassen wir uns berühren. Und nur dann ziehen wir auch Konsequenzen aus unserem Erinnern.
Haben wir SIcherheitspolitik in den letzten 30 Jahren falsch eingeschätzt?
Erinnern ist unbequem. Waren wir zu bequem? Ich glaube, dass wir als Gesellschaft in Deutschland lange Zeit zu bequem über Sicherheit und Verteidigung, über Krieg und Frieden nachgedacht haben.
Als Offizier der Bundeswehr und nun Bundestagsabgeordneter denke ich oft über die Rolle der Bundeswehr in unserer Gesellschaft nach. Infolge des Zweiten Weltkriegs haben wir die Bundeswehr einer demokratischen Kontrolle unterworfen. Sie ist eine Parlamentsarmee. Soldaten sind Staatsbürger in Uniform. Wir fordern als Gesellschaft zu Recht, dass die Bundeswehr fest verankert in der Gesellschaft ist. Aber haben wir als Gesellschaft und als Politik der Bundeswehr umgekehrt genügend Interesse und Wertschätzung entgegengebracht? Seit den 1990er Jahren haben wir über 420.000 Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätze entsendet. Einige von ihnen sind körperlich oder seelisch verwundet zurückgekehrt … Haben wir als Gesellschaft diesen Versehrungen, wie einer Posttraumatischen Belastungsstörung, ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt? 116 von diesen Soldaten sind im Einsatz ums Leben gekommen. Aber wie viele Menschen kennen den “Wald der Erinnerung” – einen zentralen Gedenkort in Schwielowsee? Vielleicht waren wir hier zu bequem …
Ich bin daher froh, dass wir derzeit kurz vor der Einführung eines Veteranentags stehen. Wir wollen so dem besonderen Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten Anerkennung und Wertschätzung entgegenbringen. Ich hoffe, dass dieser Veteranentag Möglichkeit bietet, dass sich die Gesellschaft mehr der Bundeswehr öffnet.
Die Kriege rücken näher an Deutschland heran
Erinnern ist auch Vergegenwärtigung, weil uns das Heute ein Erinnern aufdrängt. Uns allen sind Bilder des Terrorangriffs der Hamas auf israelische Zivilisten vom 07. Oktober präsent. Wir denken an die gefangenen Geiseln. Wir denken an die getöteten Zivilisten im Gazastreifen. Als Vater eines dreimonatigen Sohnes machen mich die Bilder, die man jeden Tag auf Instagram sehen kann, sprachlos und nehmen mir den Atem. Wie kann man so unmenschlich sein? Seit dem 24. Februar 2022 erwehrt sich die Ukraine dem Angriff Russlands, nur knapp 2,5 Flugstunden von Berlin entfernt. Es macht uns fassungslos, es macht uns betroffen. Und mehr noch: Diese furchtbaren Bilder haben bei Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs schlimme, verdrängte und verschüttete Erinnerungen auftauchen lassen. “Der Krieg hat einen langen Arm”, heißt es, “Noch lange, nachdem er vorbei ist, holt er sich seine Opfer.” Wir spüren, wie nah, wie gegenwärtig unsere Geschichte ist. Wie sie uns noch immer berührt.
Weil Erinnern Vergegenwärtigung ist und weil uns das Heute ein Erinnern aufdrängt, sind wir als Gesellschaft mit unbequemen und tragischen Fragen konfrontiert. Denn sowohl der Krieg im Nahen Osten als auch der Krieg in der Ukraine betrifft uns unmittelbar. Wir können uns dem nicht verweigern: Wir sehen seine Konsequenzen in unserer Gesellschaft; wir müssen erleben, wie jüdisches Leben in Deutschland gefährdet ist; wir sind als Gesellschaft damit konfrontiert, wie wir mit der russischen Aggression umgehen. Wir fragen uns: Welche Konsequenzen ziehen wir aus der deutschen Geschichte? Wie ist Frieden möglich? Ist Frieden nur die Abwesenheit von Krieg. Oder ist Frieden mehr? Schließt ein wahrer, ein dauerhafter Frieden nicht auch Gerechtigkeit, Teilhabe und Sicherheit für alle ein?
Volkstrauertag hat lange Tradition
Der Volkstrauertag, der nach dem Ersten Weltkrieg entstand, gibt uns die Möglichkeit und vielleicht auch die Verpflichtung, Erinnern ernst zu nehmen und uns so mit unbequemen Fragen zu konfrontieren. So verstanden kann im Erinnern die Chance liegen, Antworten auf die unbequemen Fragen zu finden. Zugleich ist der Volkstrauertag ein Tag der Besinnung und des Gedenkens. Zum Erinnern braucht es Menschen, hatte ich eingangs gesagt. Zum Erinnern braucht es aber Anlässe und Orte, an denen wir gemeinsam erinnern und gedenken. Dieses gemeinsame Erinnern ist tröstlich. Der Volkstrauertag ist so Ausdruck gegenseitiger Sensibilität und Empathie, er ist Ausdruck von menschlicher Anteilnahme. Lassen Sie uns daher der Opfer vergangener und aktueller Kriege und Terrorakte gedenken und gemeinsam schweigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Erinnern ist Vergegenwärtigung … Erinnern ist manchmal unbequem … Gemeinsames Erinnern ist tröstlich. Vor allem aber ist Erinnern: lebendig.
Im Erinnern stellen wir mit dem Vergangenen Fragen an das Heute … Behalten Sie diese Fragen heute nicht für sich. Lassen Sie uns heute Erlebnisse und Erinnerungen, Erfahrungen und Erzählungen, Tröstliches wie Unbequemes, miteinander teilen.
Ich danke Ihnen.
Hinweis: Diese Rede habe ich am 19.11.2023 in Krakow am See und in Laage in verschiedenen Versionen gehalten. Die Textversion weicht von der gesprochenen Form ab.